Schmerzen integrativ behandeln: neun wichtige Punkte

Schmerzen integrativ behandeln: neun wichtige Punkte

01. Juli 2025 Seite drucken

Die integrative Schmerzbehandlung erweitert die konventionelle Schmerztherapie um wesentliche Therapiebausteine. Auch sucht sie ein tieferes Verständnis der Schmerzerfahrung und strebt vom Schmerzmittel zum Heilmittel.

1. Was ist Schmerz?

 Der Schmerz ist ein subjektives, persönliches Erlebnis. Wie Schmerz sich anfühlt, lässt sich zwar anschaulich beschreiben, und wie stark er ist, kann man auf einer Skala von 0 bis 10 erfassen. Doch das ist keine Schmerzmessung. Niemand kann Schmerzen objektiv messen oder ihr Vorhandensein beweisen oder widerlegen, weder mit Ultraschall noch im Labor. Dennoch ist der Schmerz eine reale Erfahrung, selbst wenn vielleicht keine Organ- oder Gewebeschädigungen vorliegen.

2. Was ist chronischer Schmerz?

 Der chronische Schmerz ist nicht einfach die Verlängerung eines akuten Schmerzes. Er hat dessen Alarmfunktion verloren. Er führt ein Eigenleben und wird häufig zum zentralen Problem im Leben der Betroffenen. Der chronische Schmerz wirkt zerstörerisch auf allen Stufen, auf der körperlichen Ebene ebenso wie in den biologischen Funktionskreisen, im Gefühlsleben und auf der geistig-individuellen Ebene. Man kann den Unterschied zum akuten Schmerz auf eine bündige Formel bringen:

Akut: Der Mensch hat Schmerzen.

Chronisch: Der Schmerz hat den Menschen.

3. Wie entstehen Schmerzen?

Ein körperlicher Schmerz ist die Summe der Erfahrungen im Anschluss an einen schädigenden Reiz. Grob kann man fünf Akteure oder Stationen nennen, die bei der Schmerzentstehung ins Spiel kommen:

  1. Nozizeption: Nervenzellen registrieren im Gewebe einen schädigenden Reiz wie zum Beispiel Druck, Hitze oder eine Entzündung. Wichtig: Die Reizwahrnehmung (Nozizeption) ist kein Schmerz. Es gibt Schmerzen ohne Nozizeption, zum Beispiel in einem amputierten Bein.
  2. Reizleitung: Die Nervenimpulse machen sich auf den Weg zum Gehirn. Dabei werden sie im Rückenmark analysiert, weitergeleitet oder abgebremst. Das Rückenmark kann selbständig Schutzreflexe auslösen, so dass wir zum Beispiel flugs die Hand von einer heissen Herdplatte zurückzuziehen.
  3. Der Hirnstamm reguliert das vegetative Nervensystem. Die Aktivierung des Sympathikus verändert unverzüglich die Atmung, den Blutdruck, den Wärmehaushalt usw.
  4. Das limbisches System ist das emotionale Schaltzentrum des Gehirns. Es färbt die Wahrnehmung des Schmerzes mit fundamentalen Emotionen wie Angst und Sorge.
  5. Grosshirnrinde: Erst hier tritt der Schmerz ins Bewusstsein und bildet sich bei Chronifizierung ein Schmerzgedächtnis.

Die Anthroposophische Medizin denkt Schmerz und Bewusstsein eng zusammen. Schmerz schafft Bewusstsein und verstärkt es, meist da, wo Bewusstsein nichts zu suchen hat. Die Betroffenen sind dann überwach für diese Stellen oder Regionen ihres Körpers.

4. Wo wird der Schmerz integrativ behandelt?

Die moderne Systemforschung bestätigt das Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen des menschlichen Seins, von Körper, Vitalität, Seele und Geist. Darum kann und soll die Schmerzbehandlung auf allen Ebenen ansetzen. Ein paar Beispiele:

  • Die Atemtherapie beruhigt das vegetative Nervensystem und fördert die Körperwahrnehmung.
  • Künstlerische Therapien aktivieren das mesolimbische System (das Belohnungszentrum). Sie erzeugen positive Emotionen und regulieren durch positive Rückkoppelung die Stressreaktion.
  • Achtsamkeitsübungen aktivieren den präfrontalen Cortex, einen wichtigen Teil des Arbeitsgedächtnisses. Dies verbessert die Top-Down-Regulation, reduziert die Reaktivität auf Reize und fördert die Schmerzbewältigung durch Entkoppelung von thalamischen und präfrontalen Regionen.
  • Spirituelle Ressourcenarbeit stärkt das Erleben von Sinn. Sinnerleben reduziert die Schmerztiefe und fördert den inneren Abstand zu Empfindungen.

5. Was für Perspektiven hat die integrative Schmerzbehandlung?

Ziele und Perspektiven sind zwei Paar Schuhe. Jede Schmerztherapie will ein Ziel erreichen, sei dies die Schmerzfreiheit, die Schmerzreduktion oder auch einfach ein besserer Umgang, ein besseres Leben mit dem Schmerz. Wirklich integrativ wird eine Schmerztherapie erst dann, wenn sie den Fokus auf Perspektiven ausweitet:

  1. Wiederherstellung der körperlichen Integrität
  2. Regenerative Ansprache der Vitalität
  3. Heilende Wirkung auf die Seele
  4. Verarbeitung des Schmerzes durch die Individualität
  5. Gestaltung der eigenen Biografie
  6. Wirksam werden für die Gemeinschaft

Wir erkennen in diesen Perspektiven wiederum die vier Ebenen oder Wesensglieder des anthroposophischen Menschenbildes, die körperliche (1), die vitale (2), die seelische (3) und die geistige Ebene (4, 5, 6).

6. Welche Schmerzmittel verwendet die integrative Schmerztherapie?

Wie Übersichtstudien zeigen, wirken die stärksten verfügbaren Schmerzmittel (Opioide) bei chronischen Schmerzen oft nur unbefriedigend. Ohnehin sollten sie bei vielen Schmerzerkrankungen wie Migräne, Fibromyalgie, Reizdarm usw. überhaupt nicht zum Einsatz kommen. Umso mehr plädiert die integrative Schmerzbehandlung für ein Comeback der vielen Natursubstanzen, die bei Schmerzen helfen können. Wobei daran erinnert sei, dass auch viele klassische Schmerzmittel auf natürliche, pflanzliche Quellen zurückgehen:

  • Aus der Cocapflanze sind die ersten Lokalanästhetika hervorgegangen.
  • Aspirin (Acetylsalicylsäure) ist die synthetische Nachbildung eines Wirkstoffes der Silberweide (Salix alba), deren Rinde schon in der Antike gegen Schmerzen, Entzündungen und Fieber angewandt wurde.
  • Alle Opioide basieren auf dem Schlafmohn, handle es sich um Tramadol, Tilidin, Fentanyl, Oxycodon, Buprenorphin oder Hydromorphon. Pate standen ihnen die natürlichen Opiate Morphin oder Codein, deren Wirkung sie teils massiv übertreffen. Zum Bespiel wirkt Fentanyl hundertmal stärker als Morphin.

Der anthroposophische Arzneimittelschatz birgt viele Natursubstanzen, die eine schmerzreduzierende Wirkung entfalten. Um nur drei wichtige Beispiele herauszugreifen:

Arnika

Die Heilpflanze Arnika enthält entzündungshemmende und schmerzlindernde sekundäre Pflanzenstoffe und ätherische Öle. Gemäss Studien zeigt Arnika-Gel bei der Behandlung von Schmerzen und Schwellungen nach einer Operation vergleichbare Ergebnisse wie Diclofenac-Gel, aber mit weniger Nebenwirkungen. Arnika wird besonders bei Prellungen, Verstauchungen und Muskelverspannungen empfohlen.

Aconitum

Der hochgiftige Blaue Eisenhut (Aconitum napellus) enthält neurotoxische sekundäre Pflanzenstoffe. Sie beeinflussen die Schmerzempfindung, indem sie Nervenrezeptoren modulieren und die Übertragung von Schmerzsignalen im Körper reduzieren. Zum breiten Anwendungsgebiet von Aconitum zählen Gelenk- und Muskelschmerzen sowie Verspannungen im Rücken, im Nacken und in den Schultern. Erhältlich sind Homöopathika mit Aconitum sowie anthroposophische Heilmittel wie das Aconitum-Schmerzöl.

Bienengift

Die Wirkungsweise des Bienengiftes ist paradox. Es löst Entzündungen aus, wirkt in entzündetem Gewebe aber entzündungshemmend und schmerzstillend. Gleichzeitig verflüssigt es Verhärtungen und Ablagerungen und sorgt für eine durchdringende Wärme, Lockerung und Entspannung. Gängig sind Bienengift-Salben sowie Präparate mit niedrigen homöopathischen Potenzen der Honigbiene (Apis mellifica). Schmerzlinderung verschaffen auch wärmende Auflagen mit Bienenwachs.

7. Wie wirkt sanfte Bewegung gegen Schmerzen?

 Sanfte Bewegungsformen wie Yoga, Tai-Chi, Qigong, Pilates oder Eurythmie fördern die Beweglichkeit, stärken die Muskulatur und verbessern die Durchblutung. Zudem helfen Sie, Stress abzubauen und das allgemeine Befinden zu verbessern. Alle diese Effekte tragen zur Schmerzreduktion bei, vor allem bei unspezifischen Rückenschmerzen.

Gerade bei chronischen Schmerzen und chronischer Erschöpfung sind Bewegungsformen vorzuziehen, die sich dem sportlichen Leistungsdenken entziehen. Sie zielen nicht auf eine äussere Anpassung an Fitnessziele («fit» heisst angepasst), sondern auf das innere Erleben von Bewegung, verbessern die Körperwahrnehmung und stärken das Gefühl, mit dem Körper verbunden zu sein.

8. Wie wirken äussere Pflegeanwendungen?

Anthroposophische Spitäler halten die Tradition der äusseren Pflegeanwendungen in hohen Ehren. In der Klinik Arlesheim kommen praktisch alle stationären Patientinnen und Patienten zweimal täglich in den Genuss einer Pflegemassnahme wie Wickel, Auflagen oder Fussbäder. Sie erfolgen mit pflanzlichen Substanzen wie Lavendel, Ingwer, Senf usw.

Ebenso wichtig wie die pflanzlichen Stoffe sind dabei die menschliche Zuwendung, die während einer Pflegeanwendung erfahren wird, deren sorgfältige, liebevolle Ausführung, die professionellen körperlichen Berührungen, die dabei stattfinden, und die Worte, die beiläufig gewechselt werden. Dank diesem Plus an Pflege benötigen unsere Patientinnen und Patienten deutlich weniger Schmerzmittel.

9. Deuten wir den Schmerz als Entwicklungsweg?

Ja, die integrative Schmerzbehandlung teilt die Auffassung, dass ein Schmerz zu persönlichem Wachstum und individueller Selbstentwicklung beitragen kann. Wir lernen immer wieder von unseren Patientinnen und Patienten, dass sie eine leidvolle Schmerzerfahrung nicht einfach nur beseitigen und abhaken wollen, sondern dass sie dem Ganzen einen tieferen Sinn geben:

Selbstbesinnung

Der Schmerz stoppt den alltäglichen Gang und bringt uns dazu, über unser Leben nachzudenken. Diese Reflexion kann zu positiven Veränderungen führen.

Eine Lernerfahrung

Ein Schmerz kann uns eine Lektion über unsere Persönlichkeit, unsere Grenzen und unsere Bedürfnisse erteilen.

Spiritualität und Sinnsuche
Man kann einer Schmerzerfahrungen einen tieferen Sinn abgewinnen und seelisch gestärkt daraus hervorgehen.

Empathie

Durch das Erleben von Schmerz vertiefen wir unser Verständnis für das Leiden anderer Menschen.

Motivation zur Veränderung

Schmerz kann anregen, Veränderungen in unserem Leben einzuleiten, sei es in Beziehungen, im Beruf oder in der persönlichen Entwicklung.

Aber das soll keineswegs heissen, dass die integrative Schmerzbehandlung es darauf anlegt, aus einem Schmerz einen spirituellen Entwicklungsschub abzuleiten. Oft ist eine konventionelle medikamentöse Schmerzunterdrückung unumgänglich und sinnvoll. Integrativ bedeutet eben, das Beste aus verschiedenen medizinischen Welten zusammenzuführen.

gf

Dieser Blogartikel entstand im Rahmen des Vortrags «Schmerzen integrativ behandeln – Wege zur Linderung und Heilung» des Gesundheitsforums vom 21.5.2025:
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Autor / Autorin

Text: Patrick Frei, Geprüft von: Philipp Busche, Chefarzt Innere Medizin
Text: Patrick Frei, Geprüft von: Philipp Busche, Chefarzt Innere Medizin
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