Der Schmerz ist ein subjektives, persönliches Erlebnis. Wie Schmerz sich anfühlt, lässt sich zwar anschaulich beschreiben, und wie stark er ist, kann man auf einer Skala von 0 bis 10 erfassen. Doch das ist keine Schmerzmessung. Niemand kann Schmerzen objektiv messen oder ihr Vorhandensein beweisen oder widerlegen, weder mit Ultraschall noch im Labor. Dennoch ist der Schmerz eine reale Erfahrung, selbst wenn vielleicht keine Organ- oder Gewebeschädigungen vorliegen.
Der chronische Schmerz ist nicht einfach die Verlängerung eines akuten Schmerzes. Er hat dessen Alarmfunktion verloren. Er führt ein Eigenleben und wird häufig zum zentralen Problem im Leben der Betroffenen. Der chronische Schmerz wirkt zerstörerisch auf allen Stufen, auf der körperlichen Ebene ebenso wie in den biologischen Funktionskreisen, im Gefühlsleben und auf der geistig-individuellen Ebene. Man kann den Unterschied zum akuten Schmerz auf eine bündige Formel bringen:
Akut: Der Mensch hat Schmerzen.
Chronisch: Der Schmerz hat den Menschen.
Ein körperlicher Schmerz ist die Summe der Erfahrungen im Anschluss an einen schädigenden Reiz. Grob kann man fünf Akteure oder Stationen nennen, die bei der Schmerzentstehung ins Spiel kommen:
Die Anthroposophische Medizin denkt Schmerz und Bewusstsein eng zusammen. Schmerz schafft Bewusstsein und verstärkt es, meist da, wo Bewusstsein nichts zu suchen hat. Die Betroffenen sind dann überwach für diese Stellen oder Regionen ihres Körpers.
Die moderne Systemforschung bestätigt das Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen des menschlichen Seins, von Körper, Vitalität, Seele und Geist. Darum kann und soll die Schmerzbehandlung auf allen Ebenen ansetzen. Ein paar Beispiele:
Ziele und Perspektiven sind zwei Paar Schuhe. Jede Schmerztherapie will ein Ziel erreichen, sei dies die Schmerzfreiheit, die Schmerzreduktion oder auch einfach ein besserer Umgang, ein besseres Leben mit dem Schmerz. Wirklich integrativ wird eine Schmerztherapie erst dann, wenn sie den Fokus auf Perspektiven ausweitet:
Wir erkennen in diesen Perspektiven wiederum die vier Ebenen oder Wesensglieder des anthroposophischen Menschenbildes, die körperliche (1), die vitale (2), die seelische (3) und die geistige Ebene (4, 5, 6).
Wie Übersichtstudien zeigen, wirken die stärksten verfügbaren Schmerzmittel (Opioide) bei chronischen Schmerzen oft nur unbefriedigend. Ohnehin sollten sie bei vielen Schmerzerkrankungen wie Migräne, Fibromyalgie, Reizdarm usw. überhaupt nicht zum Einsatz kommen. Umso mehr plädiert die integrative Schmerzbehandlung für ein Comeback der vielen Natursubstanzen, die bei Schmerzen helfen können. Wobei daran erinnert sei, dass auch viele klassische Schmerzmittel auf natürliche, pflanzliche Quellen zurückgehen:
Der anthroposophische Arzneimittelschatz birgt viele Natursubstanzen, die eine schmerzreduzierende Wirkung entfalten. Um nur drei wichtige Beispiele herauszugreifen:
Arnika
Die Heilpflanze Arnika enthält entzündungshemmende und schmerzlindernde sekundäre Pflanzenstoffe und ätherische Öle. Gemäss Studien zeigt Arnika-Gel bei der Behandlung von Schmerzen und Schwellungen nach einer Operation vergleichbare Ergebnisse wie Diclofenac-Gel, aber mit weniger Nebenwirkungen. Arnika wird besonders bei Prellungen, Verstauchungen und Muskelverspannungen empfohlen.
Aconitum
Der hochgiftige Blaue Eisenhut (Aconitum napellus) enthält neurotoxische sekundäre Pflanzenstoffe. Sie beeinflussen die Schmerzempfindung, indem sie Nervenrezeptoren modulieren und die Übertragung von Schmerzsignalen im Körper reduzieren. Zum breiten Anwendungsgebiet von Aconitum zählen Gelenk- und Muskelschmerzen sowie Verspannungen im Rücken, im Nacken und in den Schultern. Erhältlich sind Homöopathika mit Aconitum sowie anthroposophische Heilmittel wie das Aconitum-Schmerzöl.
Bienengift
Die Wirkungsweise des Bienengiftes ist paradox. Es löst Entzündungen aus, wirkt in entzündetem Gewebe aber entzündungshemmend und schmerzstillend. Gleichzeitig verflüssigt es Verhärtungen und Ablagerungen und sorgt für eine durchdringende Wärme, Lockerung und Entspannung. Gängig sind Bienengift-Salben sowie Präparate mit niedrigen homöopathischen Potenzen der Honigbiene (Apis mellifica). Schmerzlinderung verschaffen auch wärmende Auflagen mit Bienenwachs.
Sanfte Bewegungsformen wie Yoga, Tai-Chi, Qigong, Pilates oder Eurythmie fördern die Beweglichkeit, stärken die Muskulatur und verbessern die Durchblutung. Zudem helfen Sie, Stress abzubauen und das allgemeine Befinden zu verbessern. Alle diese Effekte tragen zur Schmerzreduktion bei, vor allem bei unspezifischen Rückenschmerzen.
Gerade bei chronischen Schmerzen und chronischer Erschöpfung sind Bewegungsformen vorzuziehen, die sich dem sportlichen Leistungsdenken entziehen. Sie zielen nicht auf eine äussere Anpassung an Fitnessziele («fit» heisst angepasst), sondern auf das innere Erleben von Bewegung, verbessern die Körperwahrnehmung und stärken das Gefühl, mit dem Körper verbunden zu sein.
Anthroposophische Spitäler halten die Tradition der äusseren Pflegeanwendungen in hohen Ehren. In der Klinik Arlesheim kommen praktisch alle stationären Patientinnen und Patienten zweimal täglich in den Genuss einer Pflegemassnahme wie Wickel, Auflagen oder Fussbäder. Sie erfolgen mit pflanzlichen Substanzen wie Lavendel, Ingwer, Senf usw.
Ebenso wichtig wie die pflanzlichen Stoffe sind dabei die menschliche Zuwendung, die während einer Pflegeanwendung erfahren wird, deren sorgfältige, liebevolle Ausführung, die professionellen körperlichen Berührungen, die dabei stattfinden, und die Worte, die beiläufig gewechselt werden. Dank diesem Plus an Pflege benötigen unsere Patientinnen und Patienten deutlich weniger Schmerzmittel.
Ja, die integrative Schmerzbehandlung teilt die Auffassung, dass ein Schmerz zu persönlichem Wachstum und individueller Selbstentwicklung beitragen kann. Wir lernen immer wieder von unseren Patientinnen und Patienten, dass sie eine leidvolle Schmerzerfahrung nicht einfach nur beseitigen und abhaken wollen, sondern dass sie dem Ganzen einen tieferen Sinn geben:
Selbstbesinnung
Der Schmerz stoppt den alltäglichen Gang und bringt uns dazu, über unser Leben nachzudenken. Diese Reflexion kann zu positiven Veränderungen führen.
Eine Lernerfahrung
Ein Schmerz kann uns eine Lektion über unsere Persönlichkeit, unsere Grenzen und unsere Bedürfnisse erteilen.
Spiritualität und Sinnsuche
Man kann einer Schmerzerfahrungen einen tieferen Sinn abgewinnen und seelisch gestärkt daraus hervorgehen.
Empathie
Durch das Erleben von Schmerz vertiefen wir unser Verständnis für das Leiden anderer Menschen.
Motivation zur Veränderung
Schmerz kann anregen, Veränderungen in unserem Leben einzuleiten, sei es in Beziehungen, im Beruf oder in der persönlichen Entwicklung.
Aber das soll keineswegs heissen, dass die integrative Schmerzbehandlung es darauf anlegt, aus einem Schmerz einen spirituellen Entwicklungsschub abzuleiten. Oft ist eine konventionelle medikamentöse Schmerzunterdrückung unumgänglich und sinnvoll. Integrativ bedeutet eben, das Beste aus verschiedenen medizinischen Welten zusammenzuführen.
Dieser Blogartikel entstand im Rahmen des Vortrags «Schmerzen integrativ behandeln – Wege zur Linderung und Heilung» des Gesundheitsforums vom 21.5.2025:
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