War es zu Ita Wegmans Studienzeiten noch eine Seltenheit, dass eine Frau Medizin studierte, sind heute mittlerweile rund zwei Drittel der Medizinstudierenden weiblich. Dass dennoch viel weniger Frauen als Ärztin arbeiten und in noch deutlich geringerem Masse in Leitungspositionen, liegt häufig an den Rahmenbedingungen, berichteten bereits vor einigen Jahren die Ärztezeitungen im deutschsprachigen Raum. Wie es um die Bedingungen für junge Frauen in der Klinik Arlesheim steht, fragte die „Quinte“-Redaktion bei drei Assistenzärztinnen nach. Anne-Christine Evison und Victoria Halasz, die seit knapp zwei Jahren an der Klinik arbeiten, sowie Rahel Egli, seit Anfang des Jahres hier tätig, gaben Antwort.
„Die Jugend von heute verehrt weniger. Victoria Halasz |
An der Klinik gibt es deutlich mehr Assistenzärztinnen als Assistenzärzte, berichtet Victoria Halasz, die sich in der Klinik als sehr willkommen erlebt – ohne Unterschied zwischen Männern und Frauen, weder beim Gehalt und den Ferien noch bei den Aufgaben. Es geht weniger um Mann und Frau, es geht um den individuellen Menschen, bestätigt sie. Doch in der Führungsebene gibt es fast nur Männer. Die Klinikärztinnen in höheren Positionen haben ihres Wissens keine Kinder, was die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch hier nach sich ziehen könnte. Für Rahel Egli ist deutlich, dass an der Klinik solche Vereinbarkeit angestrebt wird: Es ist eine Offenheit da für neue Konzepte. Teilzeitarbeit für Assistenzärztinnen und -ärzte wie hier habe sie in anderen Spitälern noch nicht erlebt. Ganz neu auf der Inneren Medizin wird die Möglichkeit des Jobsharings versucht – ob sich das bewährt, wird sich noch beweisen müssen.
Anne-Christine Evison wollte nach ihrem Medizinstudium keinen Spagat zwischen Beruf und Familie, weshalb sie sich zunächst für die Familie entschieden hat und nun deutlich älter ist als ihre Assistenzkolleginnen und -kollegen. Für sie ist es unproblematisch, dass auch die Oberärztinnen und -ärzte teilweise jünger sind. Sie fühlt sich als Mensch angesprochen, es geht nicht darum, dass sie eine Frau ist oder gar wie alt sie ist. Doch es ist eine Umstellung insofern, da sie zu Hause „ihr eigener Chef“ war. Jetzt muss sie natürlich das machen, was erforderlich ist, wie zum Beispiel Dienst an den Weihnachtstagen. Sie stellt fest, dass die Jungen heute offener und flexibler sind als die Medizinabsolventinnen damals, die sich mehr „geduckt“ haben. „Das war immer so“, hiess es früher. Das ist heute anders – wie es auch die beiden jüngeren Frauen auf den Punkt bringen: „Heutzutage wollen wir alles.“ „Wir Frauen wollen heute nicht mehr nur Ärztin, nicht nur Mutter sein, sondern möglichst beides gleichzeitig. Und dazu natürlich auch noch Zeit für uns haben.“ Sie schreiben es dem heutigen Zeitgeist zu, dass Frauen, aber auch Männer zum Beispiel mehr Teilzeitarbeit einfordern.
Rahel Egli hat den Eindruck, dass sie ihre Bedürfnisse hier an der Klinik gut deutlich machen können. Die Assistenzärztinnen fühlen sich gehört – und nicht nur gehört, sondern auch gefragt. Diese Aussage unterstützt auch Victoria Halasz, die es als speziell erlebt, dass sie sich viel äussern und mitbestimmen dürfen. Das stärkere Einbringen erleben sie auch bei Problemen, so werden sie zum Beispiel bei Dienstplanengpässen mit einbezogen. Es wird insofern nicht über sie bestimmt, sondern sie ringen zusammen um Lösungen, die für beide Seiten passen. Einen Grund für diesen Einbezug sehen sie durchaus auch darin, dass sie sich einbringen wollen und das deutlich zum Ausdruck bringen. Anne-Christine Evison ergänzt, auch ihre Kollegen würden dazu beitragen, bei Problemen miteinander zu reden und so Lösungen zu ermöglichen.
Victoria Halasz erzählt, ihr sei eingebläut worden, dass man Patientengeschichten nicht mit nach Hause nimmt. Sie hat den Eindruck, dass die Patientinnen und Patienten mit in ihrem Gefühlsraum leben. Und doch versucht sie, dies in der Klinik zu lassen, zumal sie und ihre Aufmerksamkeit daheim von ihrem Kind gebraucht werden. Ausserdem hat sie gelernt, dass sie nicht allein für die Patientinnen verantwortlich ist. Sie weiss, dass sie Teil eines Behandlungsteams ist; auch Pflegende sowie Therapeutinnen und Therapeuten spielen hier eine grosse und wichtige Rolle. Rahel Egli hat mehrfach erlebt, dass allein schon das gemeinsame Schauen auf therapeutische Probleme einer Patientin hilft. „Wenn ich das hier nicht machen kann, nehme ich die Probleme zu oft mit nach Hause, was nicht gut ist.“, berichtet sie. Für Anne-Christine Evison ist es sehr wichtig, solche Patientenbesprechungen in einer guten, offenen Stimmung zu führen.
Anne-Christine Evison bestätigt, dass so manches Mal bei der Suche nach Therapieideen Mut vonnöten ist. Sie ist sicher, dass aus der geistigen Welt Unterstützung möglich ist und hat dies schon in schwierigen Situationen erlebt. Das Zulassen von solchem geistigen Zutun kennt Rahel Egli ebenfalls, die sich ab und an von ihrer bereits verstorbenen Mutter Unterstützung erbittet. Ihre Mutter war es auch, die sie an die Anthroposophie geführt hat. Rahel Egli ist beeindruckt von der Leistung Ita Wegmans, findet es gut zu wissen, dass sie die Klinik gegründet und was für einen besonderen Ort sie hier geschaffen hat. Victoria Halasz fehlt noch der starke Bezug zu Ita Wegman, die wenig im Arbeitsalltag integriert ist, obgleich für Texte von Rudolf Steiner durchaus Zeit reserviert ist. Für sie ist es eine schöne Vorstellung, dass Ita Wegman hier noch weiterwirkt, sie würde sich gern mehr mit dem Leben dieser Ärztin beschäftigen. Aber verehren? „Die Jugend von heute verehrt weniger. Was nicht heisst, dass wir nicht beeindruckt sind von ihren Leistungen. Es geht mehr darum: Was wollen wir? Was ist unseres?“, erläutert Victoria Halasz. Und Rahel Egli ergänzt, „Ihre selbstlose Art findet man heute nicht mehr so. Wir formulieren mehr unsere eigenen Bedürfnisse.“
Die Assistenzärztinnen Rahel Egli, Anne-Christine Evison und Victoria Halasz (v.l.n.r.)
Die jungen Auszubildenden in der Pflege sprachen ebenfalls über Fragen zum Rollenbild in der Klinik: Svetlana Gassler, Ausbildung Pflege HF im 2. Ausbildungsjahr, onkologische Station; Kayra Ferreira Paixão, gleiche Ausbildung und 2. Jahr, Station Psychiatrie; Sarah Grossenbacher im 3. Jahr der Ausbildung Fachfrau Gesundheit, onkologische Station; Alexandra Guard, im 1. Jahr Ausbildung Pflege HF, Station Innere Medizin. Am Gespräch beteiligt sich zudem Rebekka Lang, Ausbildungsverantwortliche Pflege in der Klinik. Im Gespräch wird rasch deutlich, dass der Pflegeberuf nach wie vor ein typischer Frauenberuf ist; männliche Pflegende sind leider selten, was alle sehr schade finden. So zum Beispiel Sarah Grossenbacher, die mit den wenigen männlichen Pflegenden auf der Station gern zusammenarbeitet und gute Erfahrungen mit einem Berufsbildner hat. Das bestätigt auch Kayra Ferreira: „Männer werden hier nicht bevorzugt, das habe ich schon anders erlebt. Wir machen die gleiche Arbeit und werden gleichberechtigt behandelt. Auch als Studentin erlebe ich keine Benachteiligung.“ Sie hatte als Kind die Idee, einen typischen Männerberuf auszuüben, wollte Schmied werden, hat sich dann aber doch für den Pflegeberuf entschieden, der ihr durch die Tante vorgelebt wurde. Alexandra Guard erzählt, dass sie sich an der Klinik von Anfang an gut aufgehoben gefühlt hat. „Ich werde nicht anders behandelt, weil ich eine Frau bin. An einem anderen Ort, mit einem Mann als Chef, war deutlich, dass ich als Frau weniger wert bin.“
„Männer werden hier nicht bevorzugt, das habe ich schon anders erlebt. Kayra Ferreira |
Kayra Ferreira ist sich dessen bewusst, dass die Klinik Arlesheim durch eine Frau gegründet wurde; nicht zuletzt wird ihr dies immer wieder deutlich durch die vielen Bilder Ita Wegmans, die in der Klinik ausgestellt sind. Alexandra Guard meint, dass die Erinnerung an das Wirken Ita Wegmans noch lebendig ist. „Viele Patienten halten daran fest, dass die Klinik durch Ita Wegman gegründet wurde, sie haben selbst Bilder von ihr“, ergänzt Sarah Grossenbacher. Vielleicht prägen der Umgang mit der Klinikgeschichte und die Klinikgründung durch eine Frau auch das Erleben der Klinik heute. So beschreibt Kayra Ferreira: „Ich erlebe hier eine grössere Lebendigkeit als in anderen Kliniken, die Grundstimmung ist anders.“ Sie bezieht das sowohl auf die Zusammenarbeit im Team als auch auf die Fürsorge für das Personal, worüber sie schon anderes gehört und was sie bereits anders erlebt hat. „Ich werde ernst genommen, auch in meinen Bedürfnissen.“
In der Zusammenarbeit mit den Ärztinnen und Ärzten erlebt Svetlana Gassler eine sehr gute Kommunikation, was nicht selbstverständlich sei. Sie kennt durchaus auch das andere Bild, wenn eine Ärztin oder ein Arzt ins Patientenzimmer eilt und nicht genügend Zeit aufbringt, weder für den Kontakt mit dem kranken Menschen noch für den Austausch mit den Pflegenden. Es geht dabei um die Qualität, um Kommunikation auf Augenhöhe – egal, ob Mann oder Frau, ob Auszubildende oder erfahrene Mitarbeiterin, ob jung oder alt. Kayra Ferreira bestätigt, dass diese Augenhöhe auch bei ihren Vorgesetzten erlebbar ist. Sie erlebt diese Art wertschätzende Kommunikation als sehr fruchtbar. Ein zustimmendes Nicken macht die Runde bei dieser Aussage. Auch Rebekka Lang hatte nie das Gefühl, dass es eine unterschiedliche Behandlung von männlichem und weiblichem Personal gibt. „Meine Meinung ist gefragt. Man ist interessiert daran zu hören, was ich denke, was ich meine, was ich brauche. Ich fühle mich gehört und ernst genommen.“ Für sie ist es nicht das Thema Mann und Frau, sondern eine Frage des Vertrauens. Sie berichtet zum Beispiel, dass es völlig unproblematisch ist, sich zu einem Klinikleitungsmitglied zum Essen an den Tisch zu setzen oder dass sie bei gemeinsamen Workshops auch mit Mitgliedern des Verwaltungsrats ins Gespräch kommt. Alexandra Guard und Sarah Grossenbacher erleben an der Klinik eine sehr wertschätzende Kultur, nicht nur zur Person, sondern auch zu ihrer Arbeit, die ernstgenommen wird, wobei sie diese Wertschätzung manchmal deutlicher von den Kollegen als den Kolleginnen erfahren.
„Es gibt natürlich Wesenszüge, die mehr männlich oder weiblich sind“, berichtet Rebekka Lang. Bei der Betreuung der Auszubildenden geht es vielmehr um das Individuelle, da spielt das Geschlecht aus ihrer Sicht keine Rolle. Für Männer gibt es manchmal schwierigere Situationen insbesondere bei der Körperpflege, da in der Klinik überwiegend Patientinnen liegen. Aber das sind dann spezielle Situationen, auf die jeweils individuell reagiert wird. Medizin wird weiblicher Aus ihrer eigenen Ausbildung weiss sie noch, dass die männlichen Kollegen bei den älteren Patientinnen sehr beliebt waren. Wenn ein männlicher Pflegender – oder auch der Praktikant – ins Patientenzimmer komme, könne es passieren, dass er gefragt werde, ob er der Arzt sei. „Das ist mir als Pflegende nie passiert.“ Von einer ähnlichen Situation berichtet Sarah Grossenbacher, als sie mit dem Praktikanten zur Patientin kam: Er wurde für den Arzt gehalten. Die althergebrachten Rollenbilder in der Wahrnehmung bei den Patientinnen und Patienten sind also schon noch da.
Sarah Grossenbacher ist sicher, dass auch die neuen Berufsbezeichnungen ein Schritt in die notwendige Gleichberechtigung sind: Statt der Krankenschwester und dem Krankenpfleger gibt es nun die Pflegefachfrau respektive den Pflegefachmann. Das ist auch absolut zeitgemäss, da die Bezeichnung Krankenschwester noch aus dem alten Ordensschwesterwesen stammt. Die jungen Frauen bestätigen, dass nach ihnen nur selten mit „Schwester“ gerufen werde. Das sind dann eher die älteren Patientinnen und Patienten, die den Namen der Pflegenden vergessen haben. Und vielleicht ist dies sogar sympathischer als ein „Hey Sie“, wie es Svetlana Gassler schon erlebt hat.
Erklärungsbedürftig für die kranken Menschen ist aber der Unterschied zwischen FaGe und HF, also Fachfrauen und -männern Gesundheit und Pflegefachfrauen und -männern, die die Höhere Fachschule absolviert haben. Diese verschiedenen Qualifikationsstufen werden viel nachgefragt. Doch unabhängig ob FaGe oder Pflegende HF, ob Assistenzärztin oder Chefarzt – Patientinnen und Patienten bestätigen oft, dass für sie erlebbar ist, wie auf den Stationen im Team gearbeitet wird. Dieses gemeinschaftliche Wirken wird sowohl innerhalb der Pflege deutlich als auch interprofessionell, also mit Pflegenden, Ärztinnen und Ärzten sowie Therapeutinnen und Therapeuten. Diese Einschätzung dürfte Ita Wegman freuen, für die die Gemeinschaft im Fokus stand.